kolumnen-fee?

Taugt das was? Daumen hoch, Daumen runter!

Sunday, July 02, 2006

Alt sein

Neulich, also da liege ich mit einer fetten Angina im Bett. Unerträgliche Halsschmerzen, ein stetes Wummern im Kopf und das Gefühl, meine Knochen bestünden aus kochendem Stahl. Um mich ein bisschen aufzuheitern, zappe ich mich durchs deutsche Nachmittagsfernsehprogramm. Ein Anflug von guter Laune überkommt mich, als ich auf Viva den Madonna-Song „Music“ höre. Danach gleich Modjos “Lady, hear me tonight cause my feeling…”. Bilder von durchtanzten Nächten, traurigen Abschieden und verrückten Liebesbeweisen steigen vor meinem inneren Auge auf. Martin und ich als Tramper Richtung Bologna, Katrins erste eigene Wohnung, wir betrunken auf einer Hochzeit irgendwo in St. Petersburg. Der Soundtrack meines Lebens.

Plötzlich entdecke ich am Bildrand ein kleines Banner. Erst halte ich es für eine heimtückische Fieber-Phantasie. Doch, als ich ungläubig Richtung Fernseher robbe, wird klar: Ich habe mich nicht verlesen. In poppig pink prangt am Bildrand der Schriftzug „Viva-Retro-Charts“. Stille. Jeder Gedanke verläuft ins Leere. Die Musik meiner Jugend als „Retro-Recycling-Charts“? Ja, die Realität packt mich bei den Haaren und schleift mich mit hämischem Grinsen vor den Spiegel. „24 Jahre – fast schon ein Viertel-Jahrhundert!“ schreit mir mein Spiegelbild entgegen. „Jugend, das sind jetzt die anderen.“ steht in den Falten, die sich von nun an auf meiner Stirn bilden.
Halb so schlimm, werde erst mal wieder gesund! – sagt mir die Vernunft.
Doch irgendwie ist nichts mehr wie zuvor. Ich werde sensibler, beginne zu grübeln; der Alltag wird zum Alterstest.
Irgendwann erkenne ich: Dass ich mich nicht mit Klingeltönen und Handylogos auskenne – damit kann ich leben. Dass ich in der Straßenbahn inzwischen schon das „Deutsche Wörterbuch der Jugendsprache“ brauche, um die Gespräche der Schüler neben mir zu verstehen – peinlich, aber tragbar.
Mit gestärktem Rücken laufe ich einige Wochen später durch die Fußgängerzone. Ich fühle mich jung und schön. Nichts auf der Welt kann mir etwas anhaben. Doch das Schicksal hat kein Erbarmen: Ein Punk kommt angeschlurft. Springerstiefel, zerrissene Jeans, grüne Haare. „Ham Sie mal ’nen Euro?“ fragt er bittend. „Sie?“ Ein Punk, der mich siezt?! Das war’s, ich kehre um und lenke meine Schritte zum Friedhof.



Verfasst: Oktober 2005

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